Für gute Arbeit in einer gerechten Gesellschaft

Professor Dr. Bettina Kohlrausch, Bärbel Feltrini und Dr. Tim Wihl

Man kann große Wohnungskonzerne enteignen und die Wohnungen in die öffentliche Hand überführen. „Es gibt keine rechtlichen Bedenken dagegen und es wäre ein gutes Geschäft. Denn man muss noch nicht mal den Marktpreis bezahlen.“ Mit dieser spannenden Erläuterung des Rechtswissenschaftlers Dr. Tim Wihl vom The New Institute in Hamburg begann am Nachmittag die inhaltliche Beratung der 113 Anträge.

In einer von Bärbel Feltrini vom NGG-Bildungszentrum Oberjosbach moderierten Podiumsdiskussion berichtete Tim Wihl über das Rechtsgutachten, das er gemeinsam mit zahlreichen Jurist*innen im Auftrag des Berliner Senates erstellt hatte. Anlass für das Rechtsgutachten war die erfolgreiche Volksinitiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. In der hatten sich die Berliner*innen mehrheitlich für die Vergesellschaftung von Wohnungskonzernen mit mehr als 3.000 Wohnungen ausgesprochen.

Arme Menschen sind von sozialer Teilhabe oft ausgeschlossen, sie können sich keine neuen Schuhe oder Nachhilfe für ihre Kinder leisten. Das berichtete Professor Dr. Bettina Kohlrausch: „Arme Menschen haben auch das Gefühl, dass andere Menschen auf sie herabgucken. Daraus resultiert oft auch ein geringes Vertrauen in Institutionen. Das eröffnet das Tor für rechtsradikale Einstellung und eine Verabschiedung von der Demokratie.“

Die Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans Böckler-Stiftung regte in ihrem Beitrag dazu an, den Blick stärker auf die Finanzierung der soziale Infrastruktur zu richten. „Bilden, Wohnen, Mobilität und Kinder sind keine individuelle, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe. Das kostet Geld, und dieses Geld muss mobilisiert werden, beispielsweise mit einer höheren Erbschaftssteuer und Vermögenssteuer“, sagte Bettina Kohlrausch.  

„Ein lebendiger und demokratischer Ort der Meinungsbildung“

„In einer Zeit, in der man Ermutigung braucht, freut es mich, dass ich hier in Bremen die Gewerkschaft mit dem höchsten Mitgliederzuwachs begrüßen darf. Gewerkschaft steht für Solidarität, genauso wie die Bremer Stadtmusikanten. Wenn ein Märchen für Solidarität steht, dann dieses. Es ist ein Symbol dafür, dass man sich den Räubern, oder auch der Obrigkeit, entgegenstellt“, so Andreas Bovenschulte, Bürgermeister und Senatspräsident Freie Hansestadt Bremen, in seinem Grußwort. Sorge bereite ihm allerdings, in welcher Geschwindigkeit sich in unserer Gesellschaft ein Rechtsruck vollziehe. Der Anteil der Unzufriedenen, die sich bei Wahlen für die AfD aussprechen, sei auch unter Gewerkschafter*innen sehr hoch. Die Ursachen hierfür seien vielfältig, aber „erreichen wir soziale Gerechtigkeit durch gute Arbeit oder durch den Zorn auf die anderen?“ Die Antwort auf diese rhetorische Frage lieferte Bovenschulte gleich selbst: „Wir schaffen eine Grundlage für gutes Leben für alle Menschen: eine Stabilisierung der Einkommen, eine vernünftige Wirtschaftspolitik. Wir müssen Solidarität und Gerechtigkeit zum Thema der nächsten Jahre machen.“

„Klare Kante gegen Rechts!“

Und damit stieß Bovenschulte beim wiedergewählten NGG-Vorsitzenden Guido Zeitler auf offene Ohren. Dieser betonte in seiner Grundsatzrede, dass das Kongressmotto „Gemeinsam Zukunft machen“ bedeute, die NGG auch weiterhin zu einem lebendigen und demokratischen Ort der Meinungsbildung zu machen. Es gelte aber auch, als NGG „Klare Kante gegen Rechts“ zu zeigen: „Wer Rechte wählt, wählt über kurz oder lang Unfreiheit, Willkür, das faktische Verbot freier Gewerkschaften, kurz: unseren eigenen Untergang und den der Demokratie. Ich kann deshalb nur appellieren: Tut das nicht! Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Vielfalt, Respekt, Anerkennung, Frieden – all das sind große Leitmotive, die ursächlich mit Demokratie verknüpft sind. Für diese Werte müssen wir uns jeden Tag neu einsetzen. Demokratie lebt und ist nicht einfach da.“  Sie brauche Vertrauen in die Handlungsfähigkeit von Politik, des Staates, der Institutionen und Verbände. Dies gelte es, wieder stärker in den Mittelpunkt zu rücken: „Darin liegt die große Herausforderung auch für uns Gewerkschaften.“

Mehr Bock auf Tarifverträge und Mitbestimmung!

Doch die Liste der gewerkschaftlichen Herausforderungen ist weit größer: Eine davon, so Zeitler, sei es, sich der Tarifflucht der Arbeitgeber entgegenzustellen: „Wenn der Geschäftsführer der BDA fordert, die Beschäftigten sollten gefälligst mehr Bock auf Arbeit haben, dann fordern wir mehr Bock auf Tarifverträge und Mitbestimmung auf der anderen Seite.“ Hier sei aber auch der Staat gefordert, indem er den Maßnahmenplan zur Steigerung der Tarifbindung, wie ihn die europäische Mindestlohnrichtlinie vorsehe, schnell vorlege. Auch dies helfe, Wohlstand gerecht zu verteilen und sei zentral für eine gerechte und demokratische Gesellschaft. Dass die Mindestlohnkommission gegen die Stimmen der Gewerkschaften eine völlig unzureichende Erhöhung auf 12,41 Euro ab Januar 2024 durchgesetzt habe, sei hingegen „beschämend und ein echter Skandal“. Hier müsse nachgesteuert werden. Oder wie Bundeskanzler Olaf Scholz es am Montag ausgedrückt hatte: „Das können wir nicht auf sich beruhen lassen.“

Lohnlücken schließen, Lohnmauern einreißen!

Was die immer noch vorhandene Lohnlücke zwischen Frauen und Männern von 18 Prozent betreffe, habe die NGG den Anspruch, als erste Gewerkschaft dafür zu sorgen, dass diese Lücke – auch mit Hilfe des eigens entwickelten „Entgelt-Checks – geschlossen werde. „Wenn wir in der bisherigen Geschwindigkeit weitermachen, dauert es noch bis ins Jahr 2070. Ich finde, das geht nicht!“ Auch angesichts der 33 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch vorhandenen Lohnlücke zwischen dem Osten und dem Westen der Republik sei nicht hinnehmbar: „Die Lohnmauern einzureißen, ist genau die richtige Antwort. Und ich bin stolz darauf, dass ihr mit euren Arbeitskämpfen dazu beitragt.“ Aber nicht nur im Osten sei die Streikbereitschaft der NGG-Mitglieder groß gewesen. Bundesweit hätten die fast 10.000 Streikstunden seit dem letzten Gewerkschaftstag mit zu den guten Tarifabschlüssen geführt: Dafür haben wir, habt ihr einen fetten Applaus verdient!“

Weitere Forderungen auf der NGG-Agenda seien unter anderem Bildungsgerechtigkeit, Bürgerversicherung, Ausbildungsumlage, massive Investitionen in Schulen und Bildung statt Schuldenbremse. Auch bei den Unternehmenssteuern sei noch deutlich Luft nach oben, so Zeitler: „Eine demokratische Gesellschaft hält das auf Dauer nicht aus, wenn die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. Eine gerechtere Verteilung der Vermögen würde auch für mehr Geld für wichtige sozialstaatliche Leistungen wie eine zukunftsfeste gesetzliche Rente sorgen: „Für ein Rentenniveau, von dem man leben kann, brauchen wir auch keine Experimente am Aktienmarkt. Diesen Weg werden wir nicht mitgehen.“

„Das tut uns allen unglaublich gut!“

Was den klimaneutralen Umbau der Industrie anbelange, werde die NGG diese Prozesse flankieren und um staatliche Hilfen werben, damit sie auf nichtfossile Energieträger umstellen könne. Diese Hilfen dürfe es aber nur geben, wenn die Industrie zusichere, Standorte und Arbeitsplätze zu erhalten und die Unternehmen tarifgebunden seien, so die Forderung des NGG-Vorsitzenden.

Um die Beschäftigten angesichts immer größerer Arbeitsverdichtung zu entlasten, werde die NGG verschiedene Arbeitszeitmodelle tariflich vorantreiben. Hierfür seien nicht nur gute Argumente, sondern auch Macht und die Fähigkeit zum Arbeitskampf erforderlich. Auch hierfür brauche es viele und engagierte Mitglieder: „Ohne ausreichend Mitglieder gibt es keine neuen Rezepte und keine Krisenbewältigung, getreu dem Motto unseres Gewerkschaftstages ‚Gemeinsam Zukunft machen‘. Und dass wir das Jahr 2023 wieder mit einem Mitgliederplus beschließen werden können, ist großartig. Das tut uns allen unglaublich gut! Wir werden auch in den nächsten Jahren eine starke, streitbare und lebendige Gewerkschaft sein!“

„Die NGG sorgt für das erste Lächeln des Morgens“

Rolf Schmachtenberg, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, unterstrich in seinem Grußwort die Bedeutung von Gewerkschaften, namentlich der NGG. Sie organisiere nicht nur Solidarität und Zusammenhalt, sondern ihre Mitglieder erbrächten in ihren Branchen auch Leistungen für das leibliche Wohl, die uns allen täglich zugutekämen: „Die NGG ist täglich bei uns. Sie sorgt für das erste Lächeln des Morgens: mit Kaffee.“

Sorge bereite allerdings auch ihm die große Wut vieler Menschen und die Neiddebatte, etwa in Sachen Bürgergeld: „Das Gift sind diese Verlustängste, die real und verständlich sind, aber von Populisten ausgenutzt werden.“

Schmachtenberg wurde nicht müde, zu betonen, an wie vielen Stellschrauben sein Ministerium bereits im Sinne der Arbeitnehmer*innen gedreht habe: dem Gesetz zur Stärkung von Aus- und Weiterbildung, dem Verbot von Werkverträgen oder auch dem Lieferkettengesetz. Letzteres sei ein Meilenstein, um auch die Durchsetzung von Arbeitnehmerrechten im Ausland durchzusetzen. Er nannte aber auch viele Baustellen, die es noch anzugehen habe: Fachkräftesicherung, gute Arbeitsbedingungen, faire Löhne, soziale Sicherheit, Tariftreuegesetz, eine armutsfeste Rente. All dies könne nur gemeinsam in einem sozialen und solidarischen Land mit Respekt füreinander umgesetzt werden.

Tag 3

Am Vormittag wirft der neue Vorsitzende der NGG einen Blick auf die Herausforderungen der kommenden fünf Jahre. Neben Satzungsänderungen diskutieren die 147 Delegierten am Nachmittag den ersten Themenblock >Für eine gerechte Gesellschaft<. Dafür liegen zahlreiche Anträge aus den Gliederungen der NGG vor.